Experimente im Supermarkt

Hier folgt der 2. Beitrag von Cornelia Dassler:

Experiment 2

Ein kurzer Besuch im Büro. Im Haus kirchlicher Dienste ist der Süßigkeitenteller für diejenigen, die kein home office machen können, leergenascht. Ich gehe einkaufen, um nachzulegen. Eine ganze Tüte voller Süßigkeiten liegt auf dem Band.
Ich packe alles ein, bezahle –  die Verkäuferin lächelt trotz einer gewissen Spannung im Laden freundlich. Ich zeige ihr einen der wenigen „gesunden Riegel“, die in meinem Sortiment sind: „Mögen Sie die?“ „Ja“, antwortet sie verwundert.
„Dann schenke ich Ihnen einen. Danke, dass Sie für uns arbeiten.“
Ungläubig und etwas verschämt druckt sie sich den Bon ein zweites Mal aus:
„Damit mir auch geglaubt wird, dass der schon bezahlt war, Dankeschön.“

Das könnte ich eigentlich öfter machen, denke ich. Anderen eine unerwartete Freude zu bereiten, macht doch wirklich Spaß,

Leere

Ich muss noch einmal raus am Abend. Zu viele Stunden im Haus sind nicht meine Sache.
Es dämmert bereits, der Himmel ist von Abendwolken übersät. Hinterm Lindener Hafen bäumt sich ein letztes Leuchten auf.
Während ich so vor mich hingehe, fällt mir mit einem Mal auf, dass ich ganz allein bin. Kein Mensch begegnet mir auf meinem Weg. Die Straßen liegen verlassen da. Das Leben hat sich zurückgezogen. In den meisten Häusern brennt Licht.
Wird uns die öffentliche Leere eine Lehre sein? Werden wir nach Corona anders leben als davor? Oder werden wir einfach vergessen? frage ich mich, während ich meine einsame Runde fortsetze.
An der Unterführung stoße ich auf ein Graffito. Es leuchtet  neongrün im Lampenlicht:
Das Leben ist eine herrliche Erfindung!
Ja, etwas Besseres gibt es nicht!  Achten wir also gut darauf. Gemeinsam!  

Experimente im Supermarkt

Wir haben euch ja um eigene Blog-Einträge gebeten, weil unser Ziel ist, ein großes Corona-Tagebuch zu schreiben, das aus vielen Stimmen besteht. Hier kommt ein Beitrag von Cornelia Dassler.

Experiment 1

Ich muss am Abend einkaufen. Falls wir nicht mehr rauskönnen, brauchen wir etwas zu essen. Kühlschrank ist leer und die Reserven sind ziemlich aufgebraucht. In den letzten Wochen war ich kaum zuhause. Und ich will ja keine Lebensmittel wegwerfen. Jetzt werden wir wohl bald viel Zuhause sein, brauchen mehr als sonst.

Mein Einkaufswagen füllt sich auch ohne Hamsterkäufe mit einem Wocheneinkauf. An der Kasse lasse ich einen Mann vor, der auf seinem Arm (letzte Woche ging das noch) wenige Dinge trägt. Ein vergleichsweise bescheidener Einkauf, ich kann es an den Dingen ablesen: Es ist nur das aller- allernötigste.
Während wir noch warten fragt er etwas, was ich kaum verstehe  – er spricht russisch, wenige Brocken englisch, noch weniger deutsch.
An der Kasse möchte er mit dem Handy bezahlen, aber es klappt nicht. Die junge Kassiererin ist freundlich, will helfen, aber die Verständigung klappt nicht. Es geht um 5 € und ein paar Cent. Ich hole mein Portemonnaie aus der Tasche.
„No , No…“ sagt der Mann und versucht verzweifelt zu klären, warum er nicht mit dem Handy bezahlen kann. Ich lege die exakte Summe hin. Der Mann bedankt sich unsicher und geht. Auch die Kassiererin bedankt sich bei mir.
Als ich abwinke, weil es ja nun wirklich nur eine kleine Spende war, sagt sie nur: „Auch das hätten die meisten nicht gemacht“.

Warum eigentlich nicht? denke ich verwirrt, das ist doch etwas Schönes, was ich jetzt und hier mal tun kann.  

Ein altes schönes Wort

Deutschland im Sondermodus. Es hat ein bißchen etwas von Schockstarre. Als ob ein ganzes Land in den Schlaf gefallen wäre.
Leere Straßen, verwaiste Plätze , kaum noch Verkehr.

Das Versammlungsverbot gilt erst seit wenigen Tagen, und schon wird es den ersten zu viel! In Politik und Wirtschaft mehren sich Stimmen, die eine Lockerung oder Aufhebung fordern. Als ob das Virus sich bereits verabschiedet hätte oder von den Maßnahmen tief beeindruckt wäre.

Geduld ist gefragt! Vielleicht die wichtigste Fähigkeit im Augenblick. Sie bewahrt uns davor, in hektische Betriebsamkeit zu verfallen. Geduld ist das „ ruhige und beherrschte Ertragen von etwas, was unangenehm ist oder sehr lange dauert,“  sagt der Duden.

Ich finde, Geduld ist noch mehr. Und vor allem ist sie nicht passiv. Sie ist ausdauernder Widerstand gegen das, was das Leben beeinträchtigt.  Sie ergibt sich den bestehenden Zuständen nicht, sondern schafft eine neue Wirklichkeit.

Plötzlich fällt mir ein Wort ein, das mir noch besser gefällt und das ich noch passender finde. Ich habe es lange nicht mehr verwendet: Langmut. Das klingt nun besonders fein nach in meinen Ohren: ein Mut, der ausdauernd ist und gleichzeitig gelassen. Langmut ist die aktive Form von Geduld.

Lasst uns mutig sein mit langem Atem. Halten wir daran fest, bis dem Virus die Luft ausgeht.

Corona-Talk

Wir treffen uns zufällig auf der großen Grünfläche vor unserem Haus: David, mein direkter Nachbar (über mir) und René von gegenüber.  „Na, Hamstereinkauf?“ fragt David, der meine beiden gut gefüllten Taschen sieht. „Nur Klopapier, Mehl und Milch,“ sage ich, „ich kann dir eine Rolle verkaufen.“ „Ich will auch eine!“ ruft René. „Das geht nicht. Ich habe nur 10 Packungen bekommen,“ sage ich, „was soll dann aus mir werden?“
So geht der Spaß noch eine Weile hin und her. Dann erzählt David, der Youtuber ist, dass er eben seinen jüngsten Film fertiggestellt hat. „Das wird wohl vorerst mein Letzter werden. Die Werbeeinnahmen gehen gerade drastisch zurück.“ Schweigen.

„Naja, wenigstens sind wir gesund,“ sagt René, „ich werde jeden Tag getestet, wenn ich auf das Werksgelände komme. Ich bin schon fünfmal auf Corona untersucht worden.“ „Echt?“, frage ich, „dann nimm mich mal mit, damit ich auch einen Test bekomme.“  „Mich auch,“ sagt David. „Es wird nur Fieber gemessen!“ sagt René. Na toll!

Seine Freundin ist zur Zeit arbeitslos. Sie schreibt Bewerbungsbriefe ohne Ende und erhält lauter Vertröstungen oder Absagen. „Aufgrund der gegenwärtigen Situation müssen wir unser Stellenangebot leider zurückziehen.“ In dem Ton.  „ Janne ist schon total gefrustet. Momentan geht gar nichts mehr!“ sagt René. „Aber du lieferst weiter aus?“ frage ich. „Ja, zum Glück. Solange wie möglich. Wir können uns nicht leisten, dass ich auch noch ausfalle. Wir brauchen jetzt jeden Cent,“ sagt er und lacht.

Die heimlichen Helden und Heldinnen – es gibt so viele davon. Ganz in unserer Nähe.

Die Sonne scheint

Vielleicht ist die gegenwärtige Wetterlage ein präziser Kommentar zu unserer Lage.
An geschützten Ecken wärmt die Sonne und lässt Wangen und Nase rot werden.
Ich setze mich dem Licht aus und freue mich über den Nachmittag. Aufbrechende Knospen. Vogelgesang. Frühling!
Als die Sonne am Abend verschwindet, verändert sich die Situation schlagartig. Die Luft wird eisig, sehr eisig. Fröstelnd trete ich den Heimweg an.

Wir leben gerade auf brüchigem Grund. Zumindest erscheint uns das so. Aber vielleicht haben wir vorher zu lange geträumt, eingelullt von all den Annehmlichkeiten, die uns ohne lange Umwege zur Verfügung standen. Der Grund ist immer brüchig und das Leben gefährlich-zerbrechlich. Zeit, die Augen zu öffnen. Es sollte unsere besten Fähigkeiten wachrufen.

Ferne ist die neue Nähe

Seit gestern gehen sich alle aus dem Weg, wenn sie sich draußen begegnen. Nach wie vor sind die Menschen unterwegs, um dem cabin fever zu entgehen. Aber die Grüppchen sind kleiner geworden.
 
Auf meinem Weg kommt mir eine ältere Dame entgegen. Ich gehe noch einen Schritt weiter nach rechts, während sie auf ihrer Seite das Gleiche tut. Wir sehen uns an, und dann schenkt sie mir ein Lächeln, das alle Distanz mühelos überbrückt.
Sie wird an diesem Tag nicht die Einzige bleiben. Es ist als würde einem ständig das Herz gestreichelt.

Es würde mich freuen, wenn es so etwas auch nach Corona gäbe.

Die Engel des Alltags

Sie versorgen die Alten in den Heimen. Sie arbeiten auf Intensivstationen. Sie tragen die Post aus. Sie sitzen an den Kassen der Supermärkte. All jene, die sonst unbeachtet bleiben, treten mit einem Mal ins Rampenlicht. Es wird deutlich, wie unverzichtbar ihre Arbeit ist. Danke dafür! Danke an alle, die im Schatten der Aufmerksamkeit wirken. Für ihre  Unerschrockenheit und ihre Treue.
Die Pflegekräfte und Ärzt*innen erhalten Applaus von den Balkonen. Den Postzustellenden könnte man sagen, wie sehr man es schätzt, dass sie weiterhin da sind. Und den Kassierer*innen?
Ich stelle mir vor, ich bin im Supermarkt und auf ein Zeichen hin beginnen alle zu klatschen.
Applaus für die Engel des Alltags!